Ethnographische
Parallelen und Vergleiche
NEUE FOLGE
von
Richard Andree
Leipzig,
Verlag von Veit & Comp.
1889
Beschneidung 1)
p.166-212
p. 166
RS: First a footnote referring us to Ploss: (einem späteren Schriftsteller)
1) Erschien zuerst im Archiv für Anthropologie. XIII. Die von
mir gesammelten und beleuchteten Thatsachen, welche zum ersten Male
den Gebrauch in seiner Universalität übersehen ließen,
wurden von einem späteren Schriftsteller, ohne Quellenangabe,
fast vollständig benutzt. Dieses kann mich nicht abhalten die
Arbeit, stark vermehrt und verbessert, hier wieder zum Abdruck zu bringen.
p. 169
Das Christentum verhielt sich feindlich gegenüber der Zirkunizision
und bereits Paulus erkannte, daß Beschneidung und Speisegesetze die
Absonderung der Völker von einander bewirken und drang auf Aufhebung
des unter den judenchristen fortbestehenden Gebrauches.
p. 206-208
Zweck. Fragt man nach dem Zwecke des auffallenden und doch so weit
verbreiteten Gebrauches, so findet man zunächst, daß derselbe
nirgends, die Juden ausgenommen, mehr klar im Bewußtsein der
beschnittenen Völker vorhanden ist. Auf die Frage, woher der Brauch
stamme und zu welchem Zwecke derselbe diene, geben einstimmig viele
Völker die Antwort: "man wisse es nicht mehr,", oder sie
thäten so, weil ihre Väter es so gemacht. Hier und da weiß
die Tradition wohl auch von einem mythischeii Wesen zu berichten, durch
welches die Beschneidung eingeführt wurde. In den meisten Fällen
erscheint sie als selbständige, unabhängige Institution;
Propaganda für dieselbe im größeren Maßstabe
und sie weithin verbreitend, machte nur der Islam, trotzdem sie bei
diesem nicht religiöses Dogma ist. Selbstverständlich kann
da, wo die Zirkumzision als religiöser Brauch betrachtet wird,
wie bei den Juden, diese Anschauung erst Platz gegriffen haben und
die religiöse Bedeutung ihr erst geworden sein, nachdem sie bereits
vorhanden und ihre etwaige Heilsarnkeit erprobt worden war. Der Ethnograph
hat nicht die geringste Ursache, zu Gunsten der Juden hier eine Ausnahme
zu machen, wenn er auch willig anerkennt, daß die Beschneidung
gerade infolge ihrer späteren Erklärung zum religiösen
Gebrauche bei den Juden die festesten und bestimmtesten Formen angenommen
hat; aber auch bei den Judenwar die Beschneidung in der vorexilischen
Zeit nur ein Stammeszeichen, das erst während des Exils sich zu
einem Symbole gestaltete. Wie bei vielen Gebräuchen, wo die Form
geblieben und der Sinn verloren gegangen ist, hat man auch über
den Zweck und die Bedeutung der Beschneidung die verschiedenartigsten
Muttmaßungen aufgestellt. RICHARD BURTON,
von der Zirkumzision in Dahomé sprechend, giebt sogar an: removal
of the prepuce blunts the sensitivness of the glans penis and protracts
the act of Venus.(1) Wir lassen das dahingestellt und erwähnen,
daß die Beschneidung bei den Afrikanern wohl als ein Analogon
der Stammeszeichenerteilung (Einritzen der Hautnarben, Feilen oder
Ausbrechen der Zähne) betrachtet wurde, da sie unter ähnlichen
Zeremonien zur Zeit der Pubertät vorgenommen wird. Allein die
verborgene Stelle, an der man sie ausführt, vermag unmöglich
die Anschauung, als sei sie ein Starnmeszeichen am Körper, zu
unterstützen, insofern als dies Zeichen doch kenntlich für
andere sein muß und anderweitig gewöhnlich im Gesichte getragen
wird.
1. Mem. read before the Anthropol. Soc. 1. 318.
Die Ansicht, daß das Abschneiden der Vorhaut ein Opfer für
die Götter sei, ja sogar ein Surrogat für die denselben dargebrachten
Menschenopfer, ist wiederholt ausgesprochen worden und erscheint wenigstens
für Amerika begründet. Das Blut, von irgend einem Körperteile
entnommen, wurde in Yukatan und Nicaragua von den Oberpriestern auf
die Götterbilder gestrichen, geradeso wie das Blut der Menschenopfer,
mit dem man in Peru Tempelthüren und Stattlen bestrich. In Yukatan
und Nicaragua und bis an den Orinoko beschnitt man so teils die Zunge,
teils die Schamteile, bei den Totonaken Ohren und Schamteile, man sprengte
in Nicaragua das Blut aus den Zeugungsteilen auf Mais, der dann verteilt
und unter großen Feierlichkeiten gegessen wurde. Bei den Azteken
wurde bloß ein Einschnitt auf der Brust der seit einem Jahre
geborenen Knaben sowohl als Mädchen am Hauptfeste des Huitzlipochtli
gemacht, wodurch dieselben diesem Gotte geweiht wurden 2) Als
Sühnopfer erscheint Beschneidung auf den Fidschiinseln.
2 Oben Seite 201. 203 und MÜLLER, Amerik. Urreligionen.
479
Für die hier bezeichneten Völker scheint
es mir ganz sicher, daß die Opferidee das maßgebende und
die Ursache der Einführung der Beschneidung ist. Wäre in
Amerika der noch später zu erwähnende und bei den meisten
Völkern vorhandene Hauptzweck, nämlich die
Vorbereitung auf die Zeugung, maßgebend gewesen, so wäre die Beschneidung
auch viel weiter verbreitet in jenem Erdteile. Sie ist aber in der
That nur sehr sporadisch vorhanden und wo sie vorkommt mit Blutopfern
und religiösen Handlungen verknüpft. Wie in Amerika sehen
wir auch auf den Fidschiinseln teilweise die Beschneidung als Sühnopfer
aufgefaßt und nach VALENTIJN war dieselbe auch bei den heidnischen
Amboinesen eine gottesdienstliche Handlung, die aber mit dem "seid
fruchtbar und mehret euch" zusammenhängt, also auf eine Vorbereitung
zur Zeugung hinausläuft, wie dieses WILKEN (1) auseinandersetzt.
Im allgemeinen muß ich aber dabei bleiben, daß nicht ein
Zweck Ursache der Beschneidung ist, sondern daß ganz gewiß
auch die Opferidee bei einer Anzahl Völkern dieselbe herbeiführte,
wenn auch für bei weitem die meisten ein anderer Gesichtspunkt
für deren Einführung vorhanden war, ein Gesichtspunkt freilich,
dessen Kenntnis bei ihnen ganz verschwunden ist und erst wieder aufgefunden
werden mußte.
p.209-210
Nachdem wir so die Schamhaftigkeit vieler Naturvölker in Bezug
auf die Eichel kennen gelernt haben, müssen wir die bemerkenswerthe
Ansicht Gerland's über den Ursprung und die Bedeutung der Beschneidung
hier aufführen 3). Die Südseeinsulaner banden die Vorhaut
über der Eichel zu, in Neuseeland mit einem Bande vom Gürtel
aus. Man kennt die Frechheit der Markesanerinnen: gegen einen Matrosen
aber, dessen Eichel sie entblösst gesehen hatten, waren sie ganz
unerbitterlich. Es fällt nun auf, daß bei dieseir peinlichen
Schamhaftigkeit in Bezug auf die Eichel die Vorhaut über derselben
aufgeschlitzt wurde, ja, dass man auf Tonga die entblösste Eichel
tätowirte. Sind dieses Widersprüche? GERLAND
meint: "Die Scheu vor dem Anblick der Eichel scheint auch gar
nicht aus Sittsamkeit, sondern aus Religiosität hervorgegangen, dieser
Körperteil streng tabu und daher allen Blicken ein Frevel gewesen zu
sein." Weil sie aber tabu und besonders heilig, versah man sie durch
Tätowierung mit dem Zeichen des Gottes; sie war das lebenspendende
diesem geweihte Glied. "Man schlitzte die Vorhaut auf, um den den Göttern
besonders heiligen, lebenspendenden Teil nicht zu verhüllen; man
band ihn wieder zu, um den Teil, der wegen seiner Heiligkeit streng
tabu, d. h. den Göttern angehörig war, den Blicken der Menschen
zu entziehen, damit kein Bruch des Tabu entstehe." Und die jüdische
Beschneidung ist, nach GERLAND, im wesentlichen nicht anders aufzufassen.
Sie wird von Gott geboten und zugleich wird dem Abram der Name Abraham,
"Vater der Menge"gegeben und ihm eine zahllose Nachkommenschaft
versprochen. Er seinerseits soll dafür die Beschneidung einfuhren.
Der Zusammenhang ist nun dieser: für die versprochene Nachkommenschaft
wird Gott das lebenspendende Glied geweiht.
Ich muß aber gestehen, daß diese ganze
Beweisführulig mir als eine ungemein künstliche und gesuchte,
wenn auch sehr geistreiche erscheint. Die religiöse Bedeutung,
die der Beschneidung beigelegt wird, ist doch sicher erst später,
nachdem dieselbe schon vorhanden und erprobt war, hinzugekommen, um
den als gut befundenen Gebrauch fester zu bewurzeln.
p. 211-212
Nach dem vorstehend entwickelten ist also zu verwerfen,
die Beschneidung einen ursprünglich religiösen Charakter
gehabt habe, wenn ihr auch bei den Juden später ein solcher verliehen
wurde; es ist auch die Weihe des zeugenden Gliedes an die Gottheit
ein viel zu beschränkter Gesichtspunkt, um diesen als allgemeinen
Zweck gelten zu lassen; gesundheitliche Rücksichten führten
gleichfalls den Brauch nicht herbei, ebensowenig die Sucht nach Erbeutung
der Geschlechtsteile erschlagener Feinde.
Sicher ist aber die Beschneidung bei einigen Völkern
ein Opfer für die Götter, gedacht in Verbindung mit Blutspenden
und Menschenopfern. Aber auch dieser Zweck ist nur ein beschränkter,
zumeist bei amerikanischen Völkern vorkommender. Für die
große Mehrzahl ist die von PLOSS entwickelte
Theorie als die richtige und maßgebende anzuerkennen,
welche als Zweck der Beschneidung die Vorbereitung auf die sexuellen
Funktionen angiebt, (1) wiewohl derselbe nirgends mehr im Bewußtsein
der betreffenden Völker sich nachweisen läßt. Die Auseinandersetzung
Von PLOSS ist die folgende:
"Zweck und Absicht der Operationen ist die Natur
zu korrigieren, ihr bei ihren angeblichen Verirrungen, zu Hilfe zu
kommen und an den Sexualorganen einen Zustand herbeizuführen,
welchen man für einen bei erwachsenen Menschen normalen hält,
und der von der Natur an kleinen Kindern nur äußerst selten
von selbst, in der Pubertätszeit sehr oft auch nicht spontan hergestellt,
vielmehr zum Nachteil der sexuellen Funktionen gar nicht selten in
das Mannesalter hinübergebracht wird. Man will die Phimose beseitigen,
denn man hält den mit einer solchen behafteten Menschen für
minder zeugungsfähig. - - Den Völkern, welche die Beschneidung
üben, mußte die Bedeckung der Eichel durch die Vorhaut als
ein nicht normales Verhältnis erscheinen, dem man korrigierend
schon frühzeitig ganz allgemein entgegentreten muß. Somit
fasse ich in ihrer ursprünglichen Tendenz die Beschneidung auf
als den operativen Vorbereitungsakt auf die Sexualfunktion des Mannes;
denn man betrachtete den noch immerhin geringen Zustand der Phimose
am jungen Menschen als etwas Hinderliches für den Coitus. Daher
kommt es, daß die meisten Urvöllzer erst in demjenigen Lebensalter
die Vorhaut ein- oder wegschneiden, in welchem die Reife zum Geschlechtsgenuß,
die Pubertät, erreicht ist; man will den jüngling mit einem
Male reif und normal in sexueller Hinsicht machen; er wird damit in
die Reihe der heiratsfähigen Männer aufgenommen. Allein diese
auf die sexuelle Reife vorbereitende Operation wird ja auch, z. B.
bei den Juden und Mohammedanern, schon im ganz jugendlichen Alter geübt;
hier glaubt man schon am Neugeborenen dem Zustande der natürlichen
Unfertigkeit entgegentreten zu müssen. Schon dem Kinde will man
eine möglichst zahlreiche Nachkommenschaft garantieren und sich
nicht auf den Zufall verlassen, ob die an ihm bemerkte Phimose dereinst
sich von selbst beseitigen wird oder konstant bleibt."
(1) Zuerst 1884 in der zweiten Auflage seines Werkes:
Das Kind in Brauch und Sitte der Völker. Die erste 1878 erschienene
Auflage bringt nur dürftige und unerklärte Nachrichten über
die Knabenbeschneidung. Ferner derselbe 1885im Archiv für
die Geschichte der Medizin und medizinischen Geographie. VIII. Heft
3.
Archiv für Anthropologie. XIII
Braunschweig Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn
1881
p. 77-78
... Die religiöse Bedeutung, die der Beschneidung
beigelegt wird, ist doch sicher erst später, nachdem dieselbe
schon vorhanden und erprobt war, hinzugekommen, um den als gut befundenen
Gebrauch fester zu bewurzeln und zur Pflicht zu machen.
Es erübrigt, die Anführung des letzten
Grundes, den man für die Entstehung der Beschneidung angiebt: nämlich gesundheitliche Rücksichten Beförderung
der Reinlichkeit, wie dieses z. B. die Samoaner
auch ausdrücklich als Grund der Beschneidung angeben 1). Das ist
wohl denkbar und es mag in der That dieser hygienische Grund vorhanden
sein, zumal bei tropischen Völkern. Zu beachten bleibt aber immerhin,
dass andere tropische Völker, welche die Beschneidung nicht. kennen,
in Bezug auf Zeugungsfähigkeit und Gesundheit der Genitalien nicht
hinter den beschnittenen Völkern zurücksiehen, und dass dieser
Brauch - individuelle Ausnahmen abgerechnet - daher überflüssig
erscheint. Wenn neuerdings der jüdische Stabsarzt Dr. Rosenzweig
ein Staatsgesetz fordert, nach dem auch die christliche Bevölkerung
aus Sanitätsrücksichten der Beschneidung unterworfen werden
soll 2), so mag dieses der jüdischen Auffassung der Sache schmeicheln,
wird aber von uns Deutschen sicher nie ernsthaft in Betracht gezogen
werden.
Es hindert dieses nicht anzunehmen, dass die Beschneidung
bei vielen Völkern als heilsam erkannt und demzufolge zum Gesetze,
zu einer Gott wohlgefälligen Handlung erhoben wurde. Reinlichkeit
wurde schon seit Alters als ein Grund der Beschneidung angesehen und
die physische das moralische Gebiet übertragen, wurde zum Sinnbilde
und Zeichen der religiösen Reinigung bei den Juden, im weiteren
Verfolge alsdann ein Weiheact für den Eintritt in ein besonderes
Verhältniss zuJehovah, ein Zeichen der Gottangehörigkeit
und des Bundes zwischen Gott und Israel.
1) Oben S. 72.
2) Zur Beschneidungsfrage., Schweidnitz 1878. 8.
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