DAS KIND
IN BRAUCH UND SITTE DER VÖLKER
Völkerkundliche Studien
Von
Dr. med. Heinrich Ploß
Dritte, gänzlich umgearbeitete
und stark vermehrte Auflage
Nach dem Tode des Verfassers herausgegeben
von
Dr. phil. B. Renz
Zweiter Band
Mit 274 Abbildungen im Text
Leipzig
Th. Grieben's Verlag (L. Fernau)
1912
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EXTRACTS from
Kapitel XXXVIII
Sexuelle Operationen
p. 139
Der Apotheosierung der Fruchtbarkeit, welche jenen Kulten zugrunde
zu liegen scheint, entsprechen die mit der Beschneidungsfeier vielfach
verbundenen geschlechtlichen Ausschweifungen, bzw die offizielle Einführting
der Frischbeschnittenen in das Geschlechtsleben durch Wort und Tat.
- Der Besuch des heiligen Baumes bei den Kikuyu, die Errichtung eines
mit Opferblut umringelten Besehneidungsbaumes bei denMakua
und den Karesau-Insulanern, die wichtige Rolle des Bananenstammes inder heiligen Ecke des Hauses bei den Howa auf Maladagaskar, die
Umarmung des heiligen, auf grünen Zweigen liegenden Pfahles durch
den Beschneidungskandidaten während der Operation bei den Unmatjera
in Australien die mit der Subinzision verbundenen wochenlangen Schlangenfeste
der Warramunga usw. usw. sind Erscheinungen, welche an der Bedeutung
der Beschneidung (in verschiedenen Formen) als einen Akt des Geschlechts
bzw. Fruchtbarkeitskultes bei diesen Völkern kaum zweifeln lassen.
p. 148
Der Ploßschen Theorie stimmte der Hauptsache nach auch Richard Andree zu. Die große Mehrzahl der die Beschneidung
übenden Völker, meinte Andree, bezwecke damit Vorbereitung
auf die sexuellen Funktionen 1), was ja auch
aus dem vorliegenden Kapitel hervorgeht.
Ebenso schrieb Heinrich Schurtz: Der Zweck der Beschneidung
ist "trotz aller tiefsinnigen hypothesen doch wohl nur der, die begattung
zu erleichtern und allenfalls im hygienischen Sinne günstig zu
wirken. Entsprechend wird in manchen Gegenden Austialiens die Vagina
der Mädchen künstlich erweitert" 2).
Nach C. M. Pleyte 3) herrscht "bei unbeeinflußten Heiden
nun allgemein die Meinung . . .,. daß ein Unbeschnittener nicht,
zu einer fruchtbaren Kopulation fähig sei" 4). Die Meinung die
Beschneidung sei ein religiöser Brauch, sei veraltet. Damit trat
er speziell gegen den jüdischen Arzt Jacobs auf, der den
religiösen Charakter der Operation abermals zu beweisen sachte
und zugleich in Abrede stellte,. daß die Phimose häufig
so hochgradig vorkomme, daß sie die Befruchtung verhindere. Die
Phimose sei also nicht der Grund der Beschneidung.
Es wuirde viel zu weit führen, wollte ich hier auch noch auf
andere Bemühungen, den Sinn der Beschneidung, zu finden, eingehen.
Auch meine bisherigen Ausführungen machen den Eindruck, daß
die Knabenbeschneidung bei den weitaus meisten Völkern als eine
Vorbereitung zu den geschlechtlichen Funktionen erscheint. Und doch
ist dieser Eindruck kein zwingender, weil er die Frage provoziert,
ob denn die beschnittenen Völker in ihrem Umgang mit den unbesclinittenen
nicht einsehen, daß diese ihnen weder an Zeugungsfähigkeit,
noch an Gesundheit und Reinlichkeit, noch an sozialpolitischer Einheit
nachstehen. 5)
Auch diese Schwierigkeit in der Lösung des Problems hat übrigens
schon Andree bemerkt, der andererseits meinte, die Beschneidung
habe eine religiöse Bedeutung erst dann erhalten können,
nachdem sie bereits vorhanden und ihre etwaige Heilsamkeit erprobt
war.
Diese Probe scheint aber die Beschneidung eben doch nicht bestanden
zu haben, und so wäre denn anzunehmen,. daß die so weit
verbreitete Beschneidung auf einer irrtümlichen Überschätzung
ihrer Wirkung auf die Zeugung beruhe.
1) Ethnogr. Parall. N. F. 206ff.
2) Schurtz, Altersklassen und Männerbünde, S. 96f.
Berlin 1902. Über die Öffnung der Vagina später.
3) Im Glob. Bd. 61, S. 278f.
4) Pleyte berief sich dabei auf Ploß, Andree und Wilken, zu deren sehr wertvollen Arbeiten seitdem freilich viel
neues Material gekommen ist.
RS:. 5) Andree and Renz fail to differentiate between
"geschlechtlichen Funktionen" and "Zeugungsfähigkeit"
The basic problem may be due to 19th century sexual attitudes which
undoubtably associated and even condoned sex only in association with
fertility - (far more than any primitive or modern peoples do!)
RS: Renz continues over several pages discussing
her hypothesis that circumcision was continued due to the sanctification
of fertility - as part of a fertility cult. - Undoubtably this was
an important reason (among many others) for the continuation of the
practice, but telling us nothing more of the origins.
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